Hier Stehe ich: Von der Freiheit

Hier stehe ich: Von der Freiheit palästinensischer Christen Menschen

165. Jahresfest des JV in Berlin

26. Februar 2017

Pfr. Dr. Mitri Raheb

 

Es freut mich sehr, heute hier in Berlin und zu diesem besonderen Anlass, des 165. Jahresfest des Jerusalemsvereins, diesen Vortrag halten zu dürfen. Das Thema dieses Jahres anlässlich des 500jaehriges Jubiläums der Reformation ist auch ein sehr wichtiges: „Hier stehe ich: Von der Freiheit palästinensischer Christen Menschen.“  

Im Jahre 1987 habe ich zum Thema „Das reformatorische Erbe unter den Palästinensern: Zur Entstehung der Evang. Lutherischen Kirche in Jordanien“ promoviert. Diese Promotion liegt jetzt drei Jahrzehnte zurück. Ich werde mich hier und da darauf beziehen, möchte aber etwas Neues vortragen. Ich werde mit eine persönliche Bemerkung beginnen über meine Identität als evangelisch-lutherischer Christ, werde dann drei Thesen im Raum stellen, die eine aus meiner Sicht als Kirchengeschichtler, die zweite aus der Sicht eines kontextuellen Theologen, und die dritte aus der Sicht eines mittelöstlichen Christen Menschen. 

Ich bin ein Produkt der Reformation. Es war mein Großvater, der 1868 in die Schneller Schule aufgenommen wurde, worauf hin er sich von der orthodoxen Kirche trennen und sich evangelisch konfirmieren ließ.  Mein Vater und ich sind in der Evangelische-Lutherischen Weihnachtskirche getauft, groß geworden, und aus Überzeugung dabei geblieben. Ich habe dann evangelische Theologie in Deutschland studiert und für die letzten dreißig Jahre als evangelisch-lutherischer Pfarrer gedient. Ich bin ohne Zweifel ein Produkt der Reformation deutscher Prägung. Christ bin ich aber nicht durch diese Arbeit geworden. Das Christentum ist in Palästina entstanden, hat dort seine Wurzel, und das Evangelium wurde erst dort verkündigt. (Anekdote PCUSA missionsfest 2003). Somit verstehe ich mich als in historischer Kontinuität mit den ersten palästinischen christlichen Gemeinden stehend. Palästina ist somit das Land meiner „leiblichen“ wie „geistlichen“ Väter und Mütter.

Die Reformation verstehe ich aber als etwas, was von außerhalb kommend, meine Identität und die meiner Vorfahren befruchtet hat. Ein interkultureller Impuls ist etwas positives, befruchtendes, und notwendiges zur Entfaltung von Identität. Zu glauben, dass leben in ein autarkes in sich geschlossenes System möglich oder erwünscht ist, ist eine Täuschung. Wir alle brauchen eine Befruchtung, die auf uns von außen kommt. Ein Dialog der Kulturen, ein Geben und Nehmen, ist eine wichtige Voraussetzung zum Weiterkommen. Das Gegenteil führt in ein starres Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, oder ideologischer Selbsttäuschung.

Als evangelische-lutherischer Christ habe ich gelernt die Reformation zu schätzen. Das tue ich aber ohne die Geschichte der Reformation zu sehr zur verherrlichen. Ich weiß um die Schattenseiten der Reformation, bemühe ich mich aber, diese vom damaligen Kontext her zu verstehen.  Von Luther habe ich vieles gelernt, was für mich prägend geworden ist. Ich kann heute die Welt nur mit dieser Brille lesen und verstehen. An Luther glaube ich aber, Gott sei Dank, nicht. Mein Glaube gilt Christum allein. Die Freiheit von der „Heiligen Verehrung“ befreit mich davon, Luther verehren zu müssen. Er bleibt wie ich auch „simul iustus et peccator.“ Ich kann von Luther viel lernen, muss aber nicht unbedingt dort stehen, sondern kann mich von vielem anderen gleichzeitig befruchten lassen. Die Freiheit eines palästinensischen Christen Menschen gibt mir die Freiheit, von der deutschen Reformation mich inspirieren zu lassen, ohne dabei einer Luther-haftigkeit zu verfallen. Meine lutherische Identität heute ist eine ökumenische, weshalb ich auch in der palästinensischen Ökumene und in der Kairos Bewegung sehr aktiv bin. 

Diese Botschaft der Reformation hat uns erreicht in einem Kontext europäischer Expansion und Kolonialismus. Darin liegt ein Dilemmata. Während die Reformation in Deutschland einen „anti-imperialen“ bzw. „anti-römischen“ Zug besaß, und damit etwas Befreiendes mit sich brachte, kam die Reformation nach Palästina im Zuge europäischer Kolonialismus. Das ist ein ernstes Problem.  Zwar haben die deutschen Missionare uns von der Freiheit eines Christen Menschen erzählt, aber Freiheit wurde da nur spirituell verstanden, als Freiheit vom „orientalischem Aberglauben“, vom „Heiligen Verehrung“, und „rückständigen Sitten.“ In vielem aber wurden die evangelischen Christen in die Abhängigkeit geführt. Darin lag eine Spannung. 

Die meisten „deutschen Missionare“ haben die palästinensischen „Zöglinge“  als Objekte angesehen, selten als gleich berechtigte Partner. Roland Löffler sprach da von einem „kulturimperialistisches Überlegenheitsgefühl.“  Dadurch hat die Mission, bewusst oder unbewusst, die evangelischen Christen Palästinas in die Abhängigkeit geführt. Wie ich in meiner Dissertation gezeigt hatte, die Entwicklung einer einheimisch evangelisch-lutherischen Kirche in Palästina war nie ein Ziel dieser Mission. Das mag an ihrer Ekklesiologie gelegen haben, aber auch an ihrer „Vereins-haftigkeit.“ Die deutschen Missionen haben sich vor allem als deutsche christliche Vereine verstanden, und Missionsarbeit als Vereins-arbeit verstanden. Es wurde fast gar nicht getan, um die einheimischen Kräfte so weiterzubilden, dass sie eines Tages Führungspositionen einnehmen können. Es waren die beiden Weltkriege, die die Mission gezwungen haben, ein Teil ihrer Macht an die zurückgebliebenen einheimischen Predigern und Pastoren zu überlassen.  Die Ausbildung von einheimischen Führungskräfte und die Entstehung einer einheimischen Kirche  ist dem Lutherischen Weltbund zu verdanken, der nach dem zweiten Weltkrieg, „die verwaisten Missionen“ in die Unabhängigkeit führen wollte.

Die Abhängigkeit der Mission vom deutschen Verein galt übrigens nicht nur in der Personal Frage, sondern auch was die wirtschaftliche Grundlage der Mission angeht: Grund und Besitz blieb (anders als in der Anglikanischen oder presbyterianischen Kirche) im Besitz der deutschen Vereine oder aber nach 1948 Israels überlassen gegen einer kleinen finanziellen Entschädigung. Damit blieben die evangelischen Christen ohne jeglichen wirtschaftlichen Grundlage an einer Art „Life-support“ angeschlossen, der sie knapp am Leben hinterließ, jedoch behindert und ohne jegliche finanzielle Grundlage. Die Botschaft von der Freiheit eines Christen Menschen brachte mit sich einer personellen und wirtschaftlich Abhängigkeit, die der evangelischen Kirche in Palästina bis heute zu schaffen macht. Diese Kluft zwischen der verkündigten Botschaft von der Freiheit eines Christen Menschen seitens der deutschen Missionare, und zwischen der langfristigen personellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der einheimischen evangelischen Christen verdient weitere Aufmerksamkeit. 

 

Diese Spannung  lag aber nicht nur im personellen und wirtschaftlichen Bereich, sondern auch in den politischen und theologischen Bereichen. Man hat den Christen Palästinas von der Freiheit eines Christen Menschen gepredigt, diese aber blieb ohne jegliche politische Umsetzung. Die Freiheit von der israelischen Besatzung wurde selten wirklich thematisiert. Das mag zwar an einem spiritualisierten Verständnis von Freiheit liegen, sicherlich aber hat Deutsche Vergangenheit die Botschaft von der Freiheit überschattet und zum Verstummen gebracht. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt hatte plötzliche wenig mit der Gerechtigkeit zu tun, die auf Erden gilt. Dogmatik und Ethik klafften auseinander. Ja mehr noch, die Theologie, die von einigen christlich-palästinensischen Theologen in diese Richtung entwickelt wurden, wurde von einigen als politische bzw. einseitige Theologie attackiert. Ein „kulturimperialistisches Überlegenheitsgefühl“ war theologisch sichtbar. Die Freiheit eines palästinisches Christen Menschen, Theologie kontextuell zu betreiben, wurde damit in Frage gestellt oder als einseitig deklariert, als ob die Theologie, die in Deutschland entwickelt wird, kontextlos und für Zeit und Ewigkeit gelte. D.h. die Freiheit eines palästinensischen Christen Menschen gilt nur da, solange ein Palästinenser sich um eine deutsche Achse rumdreht. Unsere politische Freiheit, Freiheit von der israelischen Besatzung, Leben in Würde und als gleichberechtigte, wurde selten theologisch thematisiert. Deutsche evangelische Theologie hat sich vielmehr mit Themen wie die Bleibinde Erwählung Israels, Landverheissung, und christlich-jüdischer Dialog beschäftigt. Dass die ganze Bibel im Kontext imperialer Macht entstanden ist und damit auch von politischer Freiheit handelt, wird selten auf Palästina übertragen, wohl aber auf andere Kontexte. D.h. als christliche Palästinenser wird uns einer der wichtigsten reformatorischen Grundlagen entzogen, die Freiheit die Heilige Schrift zu interpretieren. Von der lutherischen Reformation inspiriert lassen wir uns das aber nicht einfach gefallen. Gerade die Reformation gibt uns die Freiheit, als Palästinenser die Schrift zu lesen und auslegen zu können ohne dass der Weg notwendiger weise uns über die heutige deutsche Theologie führt. Sola Gracia heute bedeutet, dass es für Palästinensern einen direkten Weg zum Glauben gibt, ohne dass wir das Heil nur über eine „deutsche“ theologische Schiene erlangen können. Was damals für die Galater galt, und was für die Christen in Deutschland zurzeit Luther galt, gilt heute auch für uns Palästinenser. Wir lassen uns da von niemanden bezaubern. Deshalb werden wir weiterhin mit aller Kraft, eine evangelische Theologie für den palästinensischen Kontext entwickeln, ohne dass wir uns jedes Mal eine Koscher Lizenz von deutschen Kathedern erlangen müssen. Vielleicht hat uns die Reformation an dieser Stelle stur gemacht. Viele Partner im jerusalemsverein haben uns dabei unterstützt, eine kontextuelle Theologie zu entwickeln, hier würde ich besonders Herr Hoffman, Wehrmann, Abromeit etc.
Die Freiheit eines Christen Menschen hat heute eine weitere wichtige Relevanz. So wie Paulus im ersten Jahrhundert die Freiheit von dem Nomos als Zentral Thema seines Wirkens machte, so hat Luther die Freiheit von der religiösen Tradition im mittel punkt seiner reformatorischen Botschaft gestellt. Die Sola Scriptura muss in diesem Zusammenhang verstanden werden. Sein Grundsatz, „sola scriptura“, richtete sich klar gegen den Autoritätsanspruch des Klerus und gegen die verkrustete Tradition. Wenn man sich allerdings auf dieses „sola scriptura“ beschränkt, kann man zu einem sehr  evangelikalen Verständnis der Schrift gelangen, was Luthers Absicht total zuwider liefe. Damit meinte Luther also kein Biblizismus, sondern einer Befreiung von den religiösen Zwängen, die inzwischen zu einem drückenden Joch geworden sind. Deshalb hat er öfters Christus gegen die Schrift ins Feld gezogen. Und hier meine ich, dass die Botschaft Luthers damals für uns heute im Nahen Osten von großer Wichtigkeit ist. Heute in unserer Region ersticken Menschen durch die vielen selbst auferlegten religiösen Auflagen. Es gibt heute in unsere Gegend zu viel Religion, so viel, dass Gott selbst das nicht ertragen kann.

Das luthersche Verständnis von der Gnade (Gnadenlehre) ist sehr wichtig im Dialog mit dem Islam. Denn für viele Muslime sind heute religiöse Verhaltensregeln essentiell – ja teilweise so extrem, dass die Scharia den Menschen zu einem Joch wird. Die Befreiung von solchen Äußerlichkeiten ist für mich eine sehr bedeutende Leistung Luthers. Die Freiheit, die aus dem Glauben kommt und nicht aus der gesetztes Werke ist die Botschaft, die heute im Nahen Osten als Befreiung gehört werden will. Mein Ziel als lutherischer Pfarrer deshalb ist es nicht, dass die Menschen mehr äußere Vorschriften befolgen, sondern dass sie sich auf die Gnade verlassen können. Oder anders gesagt: Weniger Religiosität wäre mehr Glaube. Ich sehe, wie die Menschen darunter leiden, und sie werden auch heuchlerisch.

In einem Interview letzte Woche im Qantara.de wurde ich gefragt, ob der Islam heute eine Art Aufklärung oder auf ein Luther wartet. Meine Antwort dabei war, dass ich solche Debatten mit gemischten Gefühlen verfolge. „Einerseits halte ich es für riskant, wenn man meint, die ganze Weltgeschichte müsse nach europäischem Muster laufen. Dieses Eurozentrismus ist ja eines unserer Grundprobleme, dieses westliche Überlegenheitsdenken. Aber auf der anderen Seite halte ich die Forderung für berechtigt. Die islamische Welt braucht jemanden wie Luther, der Gott in Frage stellt, und zwar im Namen Gottes. Luther ging davon aus, dass er ein ursprüngliches Gottesverständnis freigelegt hatte, unabhängig von Äußerlichkeiten. Ich denke, dass die islamische Welt zum Teil genau damit ringt. Es geht um ein neues Verständnis der Religion, um einen Islam, der nicht auf Gesetze und Vorschriften reduziert wird.“

Auf der Frage hin, ob eine Islamische Reformation heute eine echte Chance hat, habe ich geantwortet: „Ganz sicher, und ich sehe auch einige islamische Denker, die in diese Richtung denken. Doch es geht nicht nur um Einzelpersonen, sondern auch um den historischen Kontext. Luther kam zur rechten Zeit, es war ein Kairos-Moment. Deutschland und Europa waren im Wandel, der Humanismus, die Wissenschaften, die politischen Verhältnissen, der Buchdruck – all das trug zum  Erfolg seiner Ideen bei. Dieser rechte Zeitpunkt ist in der arabisch-islamischen Welt noch nicht gekommen. Das betrifft auch die politischen Bedingungen. Ohne den passenden politischen Kontext wäre Luther einfach ein Mönch gewesen, mit großen Ideen, aber ohne Wirkung. Also die Zeit ist noch nicht ganz reif.“

Es war interessant zusehen, die Debatte, die dieser Interview im Internet und in der „Social Media“ ausgelöst hat. Das nehme ich als ein Hinweis, dass die Region sich in einem Wandel befindet. Aber umso mehr ist es wichtig, dass wir als evangelische Christen, die frohe Botschaft von der Freiheit eines Christen Menschen in diesem Kontext, hier und jetzt, predigen und leben. Der Denkende und in der Liebe handelnde Glaube ist was im Nahen Osten heute gebraucht wird. Da dürfen wir uns weder scheuen, noch zurückhalten, sondern jeder Zeit bereit sein, von der Freiheit des Glaubens Rechnung zu geben.